Vorwort - Johann Sebastian Bach: 30 Präludium für Violine solo 

Die 30 für die Violine übertragenen Präludien von Johann Sebastian Bach (1685-1750) sind eine unter pädagogischen Gesichtspunkten konzipierte Zusammenstellung von Stücken, deren Entstehung hauptsächlich auf zwei Gründe zurückzuführen ist. Viele der Präludien, besonders aus der ersten Hälfte der Sammlung, sind nach und nach für meine Schüller entstanden, bei denen ein ständiger Bedarf an anregendem und wertvollem Studienmaterial besteht. Die zweite Gruppe entstand aus einer Art Lust am Experimentieren, sozusagen nach dem Motto: was ist alles möglich auf einer Violine? Kann man Klavierstücke auch auf der Geige spielen? Wie läßt sich Bachs'-polyphoner Klaviersatz auch auf die vier Saiten der Violine übertragen? So vervollständigte sich im Laufe der vergangenen Jahre diese Sammlung von im Schwierigkeitsgrad sehr unterschiedlichen Bearbeitungen, die von leichter zu bewältigenden Stücken über ein breites Spektrum von mittelschweren und schwierigen bis hin zu extrem virtuosen Präludien reichen.

Bei der Arbeit mit diesen Transkriptionen stellte sich heraus, dass einige der Stücke recht gut auf der Geige realisierbar sind. Viele von Bachs Wendungen in seinen Werken für Tasteninstrumente sind sogar als geradezu geigerisch zu bezeichnen. So erkennt man, was die Ausnutzung der geigen technischen Möglichkeiten anbetrifft, bei einigen der Präludien Bachs eigene Schreibweise für die Violine. Bei den sehr schwierigen Präludien ist allerdings eine Violintechnik erforderlich, die erst von Violinvirtuosen späterer Generationen entwickelt wurde, und die so für den Kundigen einen gewissen Anachronismus erkennen lassen.

Die Musik selbst in ihrer einzigartigen Schönheit hätte allerdings in keinem Fall von jemand anderem stammen können als von Bach selbst. Die Einmaligkeit dieser Musik schimmert auch durch diese Violinbearbeitungen hindurch, sie ist immer präsent, in jedem Takt, in jeder Note, auch dort wo durch spieltechnisch bedingte Umstände eine Umgestaltung des Notentextes durch Transponieren, Akkordumlegungen, Oktavierungen, Weglassen (und manchmal auch Hinzufügen) von Tönen, ja ganzer Stimmen nötig waren.

Die ersten regulären Violinetüden wurden in den 1790er Jahren für das noch junge Pariser Konservatorium von Geigern wie Rudolphe Kreutzer (1776-1831) und Pierre Baillot (1771-1842) geschrieben. Bald darauf folgten andere Etüden-Sammlungen. Das bedeutet nicht, dass Geiger früherer Generationen mangels Studienmaterials weniger technische Fertigkeiten besäßen hätten; Es ist bekannt, dass im Italien der Barockzeit Arcangelo Corelli (1653-1713) mit seinen 12 Sonaten op.5 einen Maßstab der Violintechnik setzte, und dass diese Sonaten, und hieraus namentlich die Allegro-Sätze, vielerorts, auch außerhalb Italiens, als Studienmaterial verwendet wurden. Man lernte also die Technik anhand von Musikstücken und noch nicht mit eigens für pädagogische Zwecke konzipiertem Übungsmaterial.

Wir kennen die liebevoll angelegten Sammlungen von Stücken der verschiedensten Art, die Bach für seine Kinder und für seine zweite Frau Anna Magdalena anlegte (z.B. "Notenbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach"). Da Bach auch mit den spieltechnischen Möglichkeiten der Violine eng vertraut war, liegt in diesem Zusammenhang die Frage nahe, wie ein von ihm angelegtes "Geigenbüchlein", etwa für eines seiner Kinder, ausgesehen hätte.

Es ist nicht bekannt, dass Bach jemals ein solches Werk geschrieben hat. Bekannt dagegen ist seine Praxis diverse seiner Werke für andere Instrumente umzuschreiben. So existiert z.B. die Fuge seiner g-moll Solosonate für Violine BWV 1001 sowohl in einer Lauten- als auch in einer Orgelfassung. Zumindest vorstellbar ist, dass gemäß dieser kompositorischen Praxis Teile aus existierenden Werken in einem solchen "Violinbüchlein" Verwendung gefunden hätten.

Hätte Bach jemals ein solches pädagogisches Werk für die Geige geschrieben, wäre es nicht durchaus denkbar, daß das wundersame Menuet in c-moll aus den "Kleinen Präludien und Fughetten" dort wieder aufgetaucht wäre? Eine ganz ähnlich Schreibweise wie in der vorliegenden Violinfassung dieses Menuets finden wir ja in den bei den Menuetten der E-dur Partita BWV 1006, wenngleich diese auch etwas leichter zu bewältigen sein mögen. Bach hat das Präludium dieser E-dur Partita auch in zwei seiner Kantaten (BWV 29 und BWV 120a) verwendet, wo wir es jeweils in eine reichhaltige Partitur eingebettet finden. In seiner Version dieses Präludiums für Violine solo werden die Girlanden der Sechzehntel-Figurationen ganz ohne Hinzufügen weiterer Stimmen von der unbegleiteten Violine gespielt. Diesem von Bach selbst angewendeten Modus bin ich bei einigen der Präludien gefolgt, indem ich die (von Richard Wagner als "unendliche Melodie" bezeichneten) Bachschen Sechzehntelfiguren, die sich in der Klavierpartitur meist auf beide Hände verteilen, ganz ohne einen Basso oder andere begleitende Stimmen zu selbstständigen Stücken zusammengefügt habe, (Nr. 2, 3, 4, 5, 6, 11, 13, 18). Hierbei waren manchmal geringfügige Abänderungen nötig, um einen logischen Verlauf der melodischen Linie beizubehalten.

Hinter der eher harmlosen Bezeichnung "Präludium" verbergen sich bei Bach Stücke der verschiedensten Art. So finden wir in dieser Sammlung unter vielem anderen eine muntere Polonaise, ein wehmütiges Menuett, übermütige Capricen, verspielte Modulationen in Form von charakteristischen Akkordbrechungen, dahinbrausende Toccaten, eine Passionsmusik und sogar Liedhaftes und Gesangliches. Ich habe diesem Reichtum des Inhalts noch einige weitere Stücke hinzugefügt, die bei Bach nicht unter dem Titel eines Präludiums figurieren, undzwareine zarte Sarabande (nr.20) und eine Arpeggienstudie (Nr.29), beides Sätze aus der B-dur Partita, sowie eine virtuose Fuge als Schlussnummer.

Was die Präludien aus dem WTK,Teil1 anbetrifft ist es interessant zu erfahren, daß Bach zunächst 11 Präludien für seinen Sohn Wilhelm Friedemann schrieb und die dazugehörigen Fugen sowie weitere Präludien erst 1722, zwei Jahre später, hinzufügte und dann alles in die Ordnung brachte, wie wir sie jetzt kennen. Bach, der zeitlebens den Fortschritt der instrumentalen Möglichkeiten verschiedener Instrumente mit lebhaftem Interesse verfolgte und in vielen Werken bis an die Grenzen der damaligen Ausführbarkeit ging, hätte der Violine vielleicht noch gewagtere Passagen anvertraut, hätte er die Fortschritte des Violinspiels vorausahnen können, die durch Nicolo Paganini (1782-1840) in seinen "24 Capricen op.1" oder Heinrich Wilhelm Ernst (1814-1865) in seinen "Six Etudes a plusieurs parties" eingeführt wurden. Im Gegensatz zu Paganini allerdings, der die Geigentechnik gebraucht, um seine Virtuosität darzustellen, braucht Bach die Geigentechnik, um seine Polyphonie und musikalischen Absichten darzustellen. Vor diesem Hintergrund erscheint es m.E. vielleicht nicht allzu abwegig, daß auch recht schwierige Stücke mit in diese Sammlung aufgenommen wurden.

Im Gegensatz zu den Pianisten sind wir Geiger auf gewisse Art immer benachteiligt gewesen. Schon von den ersten Anfängen an können Klavierschüler mit den "Kleinen Präludien" in Bachs wundersames Universum eintreten. Auch den fortgeschrittenen Studierenden steht eine große Auswahl an Bach-Werken zur Verfügung, die dieser "denen Liebhabern zur Gemythsergetzung" schuf, oder wie er seine pädagogische Absicht auf dem Titelblatt zum WTK, Teil 1 deutlich machte: "Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem Studio schon habil seyenden zum Besonderen Zeitvertreib aufgesetzt und verfertigt von Johann Sebastian Bach."

Mit diesen Transkriptionen soll der Versuch unternommen werden, das Studienmaterial für Violine mit musikalischen Kleinodien erster Güte zu ergänzen. Es ist meine Hoffnung, daß mit dieser Arbeit ein Beitrag zur Verfügung steht, der dem Studierenden ein von Inspiration und so vielleicht auch von mehr Ausdauer geprägtem Uben verhelfen kann.

Jochen Brusch, Tübingen, den 2.2.2003
www.jochenbrusch.de


jochenbrusch.de